Die Würde des Betrachtens
Am Ende der Nikomachischen Ethik untersucht Aristoteles, worin die Glückseligkeit besteht. Die vollkommene Glückseligkeit, so findet er heraus, ist ein Leben der aktiven geistigen Schau. Denn die Glückseligkeit kann nur in einer Form von Tätigkeit bestehen, aber der Geist ist unser wahres Selbst und die höchste Kraft in uns, also muss die Tätigkeit von dieser Kraft ausgehen. Und die besondere Tätigkeit des Geistes ist eben das aktive geistige Schauen.[1]
Aber was ist das Betrachten, worin besteht seine Würde, und wie könnte es diese Würde voll zur Geltung bringen? Indem es seine eigene Macht und Überlegenheit gegenüber dem Gegenstand behauptet, z. B. durch die Behauptung, dass das, was uns erscheint, das einzige ist, was Realität besitzt, und dass das „Ding an sich“ ein bloßer Grenzbegriff ist, aber gerade kein realer Gegenstand? Oder indem es sein eigenes Verhältnis zum Gegenstand immer mehr durchschaut, immer neutraler wird und dadurch zu einer höheren Erkenntnis, zu einer größeren Wirklichkeitsnähe gelangt?
Die beiden Optionen sind in der Philosophie und in der Kunsttheorie durchgespielt worden, und sie werden es noch. Jede von ihnen sieht sich als den vorläufigen Abschluss einer geschichtlichen Entwicklung, deren Anfang (und damit mögliches Fundament) die Renaissance bildet. Insofern ist auch der Charakter der Renaissance höchst umstritten. Einig ist man sich noch darin, dass die Renaissance durch eine Betonung der inneren Vorstellung des Künstlers gekennzeichnet ist. Ein Bild, eine Skulptur hervorzubringen wird nicht mehr nur als ein Akt des Nachahmens eines äußeren Gegenstandes verstanden, sondern in erster Linie als Entfaltung einer inneren Idee des Künstlers.
Nun würde das erste Verständnis von ‘Betrachtung’, das wir das machtorientierte Verständnis nennen könnten, nahelegen, dass der Mensch die Wirklichkeit im Erkennen selbst erschafft[2] und dass die Welt „kein Sein an sich“ besitzt.[3] „Das Dargestellte wird … zu einer Funktion dieser [geistigen] Kraft, zum Ausdruck ihrer Wirkmächtigkeit.“[4]
Dahingegen würde das zweite Verständnis von ‘Betrachtung’, das wir das neutralitätsorientierte Verständnis nennen könnten, eine ganz andere Renaissance-Deutung liefern. Es stimmt, dass die innere Idee entscheidend für den Künstler wird. Aber er erhebt sich damit nicht über den Gegenstand, sondern kommt diesem näher, indem er den eigenen Blick nicht negiert, sondern bejaht und ganz klar darstellt, z. B. in Form der Zentralperspektive. Das Fliesenmuster wird verzerrt, auf einen Fluchtpunkt hin ausgerichtet und wird erst einmal den echten Fliesen weniger ähnlich. Doch durch diese Darstellung des Blicks kommt – so wird man dann später im Barock sagen können – das durch den Blick Betrachtete umso deutlicher zum Vorschein.
Und der Barock treibt das dann noch weiter. Den Barock kennzeichnet „eine Auffassung, die dem bloßen optischen Schein sich zu überlassen imstande ist und auf die ‘greifbare’ Zeichnung verzichten kann.“[5] So wird noch einmal mehr Gewicht auf das Blicken selbst und weniger Gewicht auf das Abbilden gelegt.
Genauer müsste man sogar sagen, dass das Abbilden überhaupt keine Rolle spielt und dass das Bild nur die Materie ist für eine geistige Form. Die Ähnlichkeit des Bildes mit einer anderen Form (einem eventuellen Vorbild) ist dem Bild ganz äußerlich, und die Hervorbringung lässt sich damit nicht erklären. Und wenn es möglich ist, die Renaissance für realistischer als die Gotik zu halten, den Barock für realistischer als die Renaissance, dann liegt dies an der Reinheit des Blicks, durch die eine Trennung zwischen Realität und Erscheinung wegfällt.
Das heißt, die durch Reflexion ermöglichte Darstellung des eigenen Blicks ist ein Mittel für eine größere Nähe zur Wirklichkeit und nicht mit der Attitüde verbunden, eine individuelle, sich nur aus der Sicht des Künstlers ergebende Wahrheit wiederzugeben. So jedenfalls würde es sich nach dem zweiten Verständnis von ‘Betrachtung’ ergeben.
Überhaupt wäre nach diesem Verständnis kein Gegenstand im Geist dem Gegenstand in der Realität entgegengesetzt, sondern das Erkennen wäre genau ein Anblicken, ohne dass dabei ein inneres Abbild produziert würde. Und die Kunst wäre weder eine Nachahmung noch eine Erschaffung von Wirklichkeit, sondern sie würde den Blick in einen neuen Raum eröffnen, den jeder für sich selbst entdecken kann.
Mir scheint, dieses von Neutralität geprägte Verständnis des Betrachtens entspricht am besten der Kunst von Dieter Detzner, und vielleicht sind immer noch die Worte von Paul Klee am besten geeignet, dieses Verständnis auf den Punkt zu bringen: „Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar.“[6] Das Bild oder die Skulptur ist dann ein reines Zeigen, und ob man das mit einem konkreten Gegenstand bzw. Motiv macht oder abstrakt, ist egal. Wobei aber das Abstrakte ein Vorteil sein kann, weil es keine Ablenkung gibt über individuelle Assoziationen (Platonische Körper).
Wenn die Kunst in dieser Weise ein Blicken ist, lässt sie zugleich die Wirklichkeit als etwas entstehen, das unabhängig von diesem Blick ist. Wenn die Kunst hingegen das Festhalten an „Erscheinung“ ist, eine Gleichsetzung der Realität mit dem, was wir von ihr erkennen können, ein Abschneiden all dessen, was als Ursprung und Quelle dieser Erscheinungen außerhalb dieser Erscheinungen existieren muss, dann ist das womöglich eine kurzzeitige Befreiung, in der Weise, dass es eine Macht bedeutet, aber es wird immer eine Krise kommen oder ein Missverständnis, um zu zeigen, dass es doch noch eine Wirklichkeit gibt.
So ist die Kunst nicht nur ein Licht, durch das sich uns ein neuer Raum eröffnet, sondern auch ein Licht, um überhaupt uns zu zeigen, welche Dimensionen das Betrachten haben kann.
Michael Renemann
[1] Aristoteles, Nikomachische Ethik Buch X, Kap. 7 f.
[2] T. Leinkauf, „Kunst als proprium humanitatis“, in: Erzählende Vernunft (Festschrift für W. Schmidt-Biggemann), hg. v. G. Frank, A. Hallacker und S. Lalla, Berlin 2006, S. 229.
[3] T. Leinkauf, „Selbstrealisierung. Anthropologische Konstanten in der Frühen Neuzeit“, Bochumer Philosophisches Jahrbuch für Antike und Mittelalter 10 (2005), S. 136.
[4] T. Leinkauf, „Kunst als proprium humanitatis“, S. 225.
[5] H. Wölfflin, Kunstgeschichtliche Grundbegriffe, München 11915, S. 15.
[6] Paul Klee, „Schöpferische Konfession“ (1920), in: Das bildnerische Denken (Form- und Gestaltungslehre, Bd. 1), hg. v. Jürg Spiller, Basel/Stuttgart 31971 (11956), 76–80, hier: 76.
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